Soziale Marktwirtschaft
Vor einiger Zeit wurden die Deutschen in einer repräsentativen Umfrage nach ihrer Zustimmung zur "sozialen Marktwirtschaft" gefragt. Das veröffentlichte Ergebnis verkündete einen massiven Schwund dieser Zustimmung. Angesichts dieser Meldung sollte man annehmen, dass jeder der Befragten ziemlich genau wusste, was eine "soziale Marktwirtschaft" ist, sonst hätte die Frage ja nicht beantwortet werden können. Tatsächlich geistern die verschiedensten Begriffsdeutungen durch das Land, bei denen hier das eine behauptet wird und dort das glatte Gegenteil. Die wohl geläufigste Auffassung lautet: Kapitalismus + Sozialstaat = soziale Marktwirtschaft. Doch diese Auffassung ist denkbar falsch. Die entwickelte "Soziale Marktwirtschaft" braucht den Sozialstaat kaum noch, weil sie den Kapitalismus überwunden hat. Was aber soll das für eine Wirtschaftsform sein, die sich einerseits auf den Markt beruft, aber andererseits kein Kapitalismus ist? Es ist der von Franz Oppenheimer 1933 so genannte "dritte Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus.
Mit einem Begriff vom "dritten Weg" im Munde, haben Gerhard Schröder und Tony Blair einst ihre Wahlen gewonnen. Die Völker dürsten nach diesem "dritten Weg", aber keiner weiß scheinbar näheres darüber. In Deutschland gab es einst eine von Ludwig Erhard angeleitete Bewegung, die ging diesen Weg über einige Jahre hinweg und bescherte den Westdeutschen einen beständig wachsenden "Wohlstand für alle", wie Erhard sein bekanntestes Buch in bezeichnender Weise betitelte.
"Wohlstand für alle" als Ergebnis seiner wirtschaftspolitischen Grundsätze bedeutet übersetzt zweierlei:
- Es wird die vorhandene Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich mit der Zeit weitgehend überwunden. Die Klassengegensätze verschwinden auf ein kaum noch wahrnehmbares Maß, dass alleine dem unterschiedlichen Talent und Fleiß geschuldet ist.
- Eine Gesellschaft die ihre Spaltung überwindet ist insgesamt produktiver und kann ein deutlich höheres Maß an Wohlstand erzeugen. Wer früher zu den Reichen gehörte, wird kaum weniger besitzen. Der Wohlstand der unteren Schichten wird sich jedoch dramatisch erhöhen.
Was ist von Erhards Zielen geblieben? Liest man die Wirtschaftspresse und offiziellen Statistiken der Bundesregierung auch nur oberflächlich, kommt man unweigerlich zu dem Ergebnis: Wir entfernen uns von seinen Zielen mit beständig steigender Geschwindigkeit. Die Wirtschaftspolitik hat ihren Kurs geändert, nachdem Ludwig Erhard von Bord gegangen ist. Seitdem steuern wir mit Hochdruck einer neu auflebenden Klassengesellschaft entgegen, die sich am Ende in einer ähnlich miserablen Verfassung befinden könnte wie einst Deutschland vor der Machtergreifung Hitlers.
Es ist gewiss erschreckend mit anzusehen, wie identische Dummheiten zu identischen Resultaten führen. Aber noch viel erschreckender ist der Umstand, dass wir mit Erhard einst einen Wirtschaftsführer hatten, der Deutschland aus den Trümmern heraus führen konnte zu einem Wirtschaftswunder, sich aber für die Quellen der Erkenntnis dieses Mannes buchstäblich niemand interessiert. Stattdessen praktizieren wir heute wieder die ökonomische Quacksalberei, als hätte es einen Großmeister der Wirtschaftskunst niemals gegeben.
Für die "Experten" ist die Ära Erhard ein "unerklärliches Phänomen" geblieben. Den Erfolg seiner Wirtschaftspolitik "erklärt" man deswegen gerne mit "außergewöhnlichen glücklichen Umständen", während für die Erklärung der Misserfolge seiner Nachfolger "unglückliche Umständen" wie die Ölkrise, Deutsche Einheit, Globalisierung, 9/11 und neuerdings die Finanzmarktkrise herhalten müssen. Ob das so stimmt oder die genannten Katastrophen lediglich Ausreden sind für die Folgen einer grundsätzlich nicht vorhandenen Fähigkeit, das mag der Leser selber beurteilen. Fest stehen dürfte aber jetzt schon, dass kein anderer den Wiederaufbau Westdeutschlands nach dem Kriege vergleichbar mit Erhard hätte anleiten können. Bei Sturm, und nicht im sicheren Hafen, zeigt sich, ob ein Kapitän sein Handwerk versteht.
Gerne vergessen wird heute nach dem "Sieg der freien Marktwirtschaft über den Sozialismus", dass auch die Westdeutschen nach der vorangegangenen Kriegswirtschaft in ihrer Mehrheit planwirtschaftlich orientiert waren. Die staatliche Planwirtschaft steckte allen Deutschen so sehr als funktionierende Alternative zum vorangegangenen Elend der Weltwirtschaftskrise in den Knochen, dass niemand (!), ganz gleich welchen politischen Lagers, der Marktwirtschaft eine erneute Chance zu geben wagte. Diese Form der wirtschaftlichen Freiheit, die Erhard mit Engelszungen und starker innerer Überzeugung für Westdeutschland herbei geredet hat, hat er gegen die überzeugten Mehrheiten des Volkes und des Parlamentes durchgesetzt. Kaum jemand hat ihn verstanden, aber alles was er machte, hatte Erfolg. Und so beugten sich die von anderen Überzeugungen geleiteten "Experten" diesem Erfolg Erhards mit lautstarkem Murren, denn das Volk erkannte schnell was Erhard zum Wohle des Volkes leistete.
Das Wahlvolk verehrte seinen Großmeister der Wirtschaftskunst. Niemand konnte in den politischen Machtzentren an Erhard vorbei. Die CDU unter Adenauer brauchte Erhard um die Wahlen zu gewinnen. Man ließ ihn gewähren, gleichwohl Adenauer Erhard verachtete und Erhards Überzeugungen niemals identisch waren oder wurden mit jenen, die von den Mehrheiten in der CDU vertreten wurden.
Und für die SPD war Erhard sowieso nur ein Scharlatan, der von sich behauptete ein "liberaler Sozialist" zu sein, wo doch aller Sozialismus per Parteibuch von den Sozialdemokraten beansprucht wird. Wer sich in der SPD sozialistisch aufgeklärt wähnte, der folgte bedingungslos der Kapitalismuskritik von Karl Marx. Manch einer stützt sich bis heute darauf und ist unverändert der Auffassung, dass einzig marxistische Dogmen "wissenschaftlich" begründet seien, während alle anderen Auffassungen dem Wunschdenken einer bürgerlichen Klasse entspringen. Was aber nach marxtreuem Dogma auf gar keinen Fall sein kann ist, dass der freie Markt zu mehr Wohlstand für alle führt. Der "freie Markt", das ist der "Kapitalismus", in dem eine herrschende Klasse eine unterworfene Klasse ausbeutet. Und diese Folgen der Ausbeutung können nur von einem starken, reglementierenden und regulierenden staatlichen Beamtenapparat gemildert werden.
CDU und SPD standen dem "freien Markt" gleichermaßen skeptisch gegenüber. Wenngleich die Stoßrichtung ihrer Eingriffe in unterschiedliche Richtungen zielte, so waren sie sich doch letztlich einig bei der Auffassung, dass eine starke staatliche Macht das Wirtschaftsgeschehen kanalisieren und steuern müsse.
Dagegen verfolgte Erhard eine gänzlich andere Idee. Er hatte von seinem Lehrer, dem Frankfurter Professor für Soziologie und theoretische Nationalökonomie Franz Oppenheimer, einen von mehreren Lehrsätzen verinnerlicht: Wo auch immer sich Macht konzentriert, da wird sie auch missbraucht.
Erhard war jegliche Machtkonzentration zuwider, ganz gleich ob es sich dabei um die konzentrierte Macht bei Unternehmen oder bei staatlichen Einrichtungen handelte. Leider müssen wir heute erleben, dass gerade staatliche Einrichtungen und allen voran der Gesetzgeber vollkommen unkritisch jenen Ermächtigungen gegenüber ist, die er sich selber verleiht. Die daraus erwachsenen Schäden für das Gemeinwesen beispielsweise bei der aktuellen Zwangsregulierung im Gesundheitswesen, entbehren jeder selbstkritischen Wahrnehmung durch die Akteure. Wen wundert es da, wenn die dem Volke auferlegte Ohnmacht als solche wahrgenommen wird und in Verdruss oder Ablehnung des politischen Systems mündet?
Wir sollten von dem durchschnittlich begabten Menschen keine übermenschlichen Eigenschaften erwarten. Wohl aber war Ludwig Erhard eine Ausnahmeerscheinung in diesem Sinne, dass all sein Streben frei war von den Bedürfnissen persönlicher Eitelkeit und all sein Handeln geprägt war von dem zu leistenden Dienst am Deutschen Volke. In sofern schon war Erhard eine besondere Person und ist sein Handeln auch nur von diesem besonderen Standpunkt aus zu verstehen.
Es war Erhards aufrichtiges Anliegen, Westdeutschland nach dem Krieg wirtschaftspolitisch auf ein Gleis zu setzen, bei dem von Deutschland ausgehend die Welt hätte verbessert werden können. Umso peinlicher berührte ihn dann auch der Hochmut, mit dem die vom Wohlstand gesegneten Mitbürger in die Welt zogen und sich auf die Brust klopften. Die Maßlosigkeit der von dieser Gnade des Wohlstandes Beschenkten, ließ Erhard letztlich zunehmend wütend und resigniert schweigen.
Und so kam nach dem Hochmut der freie Fall. Denn niemand interessierte sich für die gedanklichen Grundlagen des Erfolges, dem theoretischen, wissenschaftlichen Fundament der Erhardschen Politik.
Einmal abgesehen davon, dass Erhard nicht der Typ war der seine wissenschaftliche Ausbildung zur Diskussion stellte, lebte die Wirtschaftswissenschaft - wie bis heute noch - in einer Parallelwelt ohne Bezug zu den Niederungen des Alltages. Wer in Deutschland als Wissenschaftler nicht durch seine Nähe zum NS-Staat diskreditiert war, hatte die Kriegszeit meist im Ausland verbracht. Die Rückkehrer aber waren angefüllt mit "modernen" anglo-amerikanischen Wirtschaftstheorien. Mit ihrer politisch blütenreinen Weste gaben sie den Ton vor, nach dem die weniger Blütenreinen willig um "Modernität" bemüht tanzten.
Versuchen Sie sich einmal im anglo-amerikanischen Sprachraum an einer Disskussion über "The German Social Market Economy". Man wird sie angucken als wären sie eine Frau die beschlossen hätte, auf einer Vorstandssitzung in ansonsten rein männlicher Runde ihre Menstruationsbeschwerden zu thematisieren.
Das Unverständnis für Erhard seitens der "Wissenschaft" war absolut und umfassend. Bis heute sind unsere "Experten" davon überzeugt, Erhard habe gar keine wissenschaftliche Ausbildung gehabt und war halt ein Glückskind. Dabei gibt es einen weiteren, einfachen Lehrsatz Oppenheimers, der hier weiter hilft: Gute Theorie erkennt man an der Richtigkeit ihrer Prognosen.
Die Scharlatane des Wissenschaftsbetriebes sind stets eifrig dabei im Nachhinein irgendwelche Ereignisse zu erklären. Sie gaukeln dem staunenden Volke vor, als wäre alles, was stattgefunden hat, mit ihren Theorien erklärbar. Doch diese Erläuterungen sind wertloses Blendwerk, denn im Nachhinein sind stets alle schlauer, auch jene, die vollkommen blind in ein Unglück gerannt sind.
Wissenschaft dient in allen Bereichen dem vordringlichen Zweck, gesetzmäßige Zusammenhänge zu erkennen und auf der Basis dieser Gesetzmäßigkeiten anschließend die Welt sinnvoll zu gestalten. Würden wir die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken nicht anwenden, stünden uns alle modernen technischen Erfindungen nicht zur Verfügung.
Doch was in den Naturwissenschaften selbstverständlich ist, davon sind die Wirtschaftswissenschaften Lichtjahre entfernt. Hier darf jeder schwafeln oder vornehm schweigen wie er will und niemand interessiert sich für das Geschwätz von gestern. Selbsternannte oder von anderen Unkundigen auserwählte "Experten" deuten das Weltgeschehen zur Beruhigung des Volkes. Sie befriedigen damit die niederen Bedürfnisse der Massen nach einer vorgegaukelten Sicherheit. "Die da oben werden schon wissen." Doch tatsächlich haben "die da oben" noch nicht einmal damit begonnen, nach einem Wissenden in ihren Reihen zu suchen.
Wie sonst erklärt sich die Auswahl unserer Wirtschaftsminister, die - mal Lehrer, mal Juristen, mal bekennende Unwissende - allesamt nicht durch erwiesene Kompetenz in der zuständigen Wissenschaftsdisziplin aufgefallen sind? Kürt die Politik ihre Laiendarsteller zu Ministern aus reiner Selbstverliebtheit oder weil es keine praxistauglichen Fachleute gibt? Warum überträgt man das wichtigste politische Amt des Landes nicht einem jener "Wirtschaftsweisen", Institutsleitern oder "Chefvolkswirten" die uns täglich mit ihren Ansichten beglücken?
Wie bereits angemerkt, gibt es im anglo-amerikanischen Sprachraum keine Vorstellung davon, was mit dem Begriff "Soziale Marktwirtschaft" inhaltlich gemeint sein könnte. Es herrscht dort das Denken vor, eine Wirtschaft funktioniere entweder nach dem kapitalistischen oder dem sozialistischen Modell, entweder Marktwirtschaft oder Staatswirtschaft.
Mit völligem Unverständnis rätselte entsprechend der einflussreichste Nachkriegs-Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek darüber, was man mit dem Zusatz "sozial" im Zusammenhang mit einer "Marktwirtschaft" wohl gemeint sein könnte. Seine Ratlosigkeit brachte er zum Ausdruck in einem netten Beitrag über "Wieselworte". So wie Wiesel ein Ei aussaugen können, ohne daß man es nachher der Schale anmerkt, so seien Wieselwörter jene, die andere Wörter ihres Inhalts beraubten. Das Wieselwort par excellence sei "sozial": "Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit - und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist."
Mit anderen Worten war die "Soziale Marktwirtschaft" Erhards für von Hayek nichts weiter als eine leere Worthülse, mit der von Hayek nichts anfangen konnte. Dabei ist die Antwort auf von Hayeks Frage so einfach: Namen sind Schall und Rauch. Ein Mensch ist kein Müller, weil er Müller heißt. Die Bezeichnung von etwas und das, was es bezeichnet, müssen nicht identisch sein. Natürlich sind die meisten Apple Äpfel, aber manchmal halt auch Computer. Es kommt deswegen stets auf den Kontext an, in dem ein Wort gebraucht wird. Und niemand kann uns davon befreien, mehr über eine Sache zu wissen, die mit einem Begriff mehr oder weniger treffend bezeichnet wurde.
Ludwig Erhard nannte sein Wirtschaftsmodell "Soziale Marktwirtschaft". Ob diese Marktwirtschaft "sozial" ist oder nicht, kann man denjenigen zur Beurteilung überlassen, die wissen, was "sozial" ist. Die bewußte Großschreibung der "Sozialen Marktwirtschaft" deutet hingegen auf einen Eigennamen. Was sich hinter diesem Eigennamen verbirgt, dafür kann man sich interessieren oder auch nicht. Erstaunlicherweise hat sich dafür in Deutschland kaum je einer interessiert.
Es ist menschliche Schwäche, dass wir in der Regel zu allem und jedem stets eine Meinung haben, auch wenn wir rein gar nichts darüber wissen. Taucht etwas Neues auf, versuchen wir, das Neue in die bereits vorhandenen Schubladen zu pressen. Nur selten wird das Neue mit Erstaunen und Neugierde wahrgenommen. Und so ist es im Rahmen des Erhardschen Wirkens ein Phänomen, dass einerseits der Begriff WirtschaftsWUNDER dafür kursiert, dieses Wunder aber mit keinem neugierigen Erstaunen einher ging, obgleich Erhard immer betonte, dass es kein "Wunder" sei, sondern das Ergebnis der Wirtschaftskunst eines Wissenden.
Das Eingeständnis unseres Nichtwissens ist die Voraussetzung jeder Suche nach Wissen, denn wenn wir uns einbilden bereits ohne Suche wissend zu sein, dann wenden wir uns anderen Dingen zu und halten uns mit der Suche nicht länger auf.
Vielleicht gab es keinen Leidensdruck, der damals, als Erhards "Wunder" geschah, zum Nachfragen und Verstehen gezwungen hätte. Inzwischen, wo wir uns wieder in denkbar größter Entfernung zu Erhards Modell bewegen und die Deutschen an ihren politischen Führern verzweifeln - wie auch die Führer an ihren Aufgaben verzweifeln - mag die Zeit reif sein, das Scheitern der alten Modelle einzugestehen, und zwar ALLER alten Modelle.
Nicht nur die DDR konnte ihre Bürger auf Dauer nicht überzeugen, sondern ebenso das Sozialstaatsmodell und die Lehre von der "reinen" Marktwirtschaft überzeugen nicht. Unsere Marktwirtschaft bringt im Kernbereich ihres Wirkmechanismusses wieder Phänomene hervor, die wir lautstark und scheinbar ohnmächtig beklagen. Es ist an der Zeit, das andere Modell zu verstehen, das uns einst so erfolgreich den Wohlstand gebracht hat. Es ist an der Zeit zu verstehen, das wir nicht ohnmächtig sind, sondern lediglich unwissend.
Wenn der Kapitän von Bord gegangen ist, der einst das Schiff so erfolgreich gesteuert hat, und wenn seine Nachfolger ein Schiff nach dem anderen an den Klippen versenken, dann liegt es nahe sich irgendwann mal mit den Aufzeichnungen und Karten zu befassen, die der erfolgreiche Kapitän hinterlassen hat.
Bereits 1986 schrieb der ehemalige Erhard-Mitarbeiter und spätere Chefredakteur der Ludwig-Erhard-Stiftung Horst Friedrich Wünsche: "Der Frage nach Erhards ganz spezifischer Konzeption für die Politik der Sozialen Marktwirtschaft wurde noch nie tiefgründig nachgegangen. Wenn nach Erhards Politik jetzt gefragt wird, müssen seine Grundansichten neu rekonstruiert werden. Zunächst wäre wichtig, die Zielsetzungen Erhards präzis festzustellen und in ein in sich konsistentes System zu bringen. Dann könnten die Maßnahmen Erhards und schließlich die Auswirkungen der Erhardschen Politik analysiert werden. (...) Es müßte im einzelnen dargelegt werden, was Erhard aus welchen Gründen und mit welchem Erfolg tat. (...) Bedauerlicherweise jedoch sind in der Wirtschaftstheorie Paradigmata dominant geworden, die kein Verständnis für die Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards erwarten lassen."
Es ist nicht das Ziel dieses Textes, zu korrigieren, was die bezahlte Wissenschaft über 40 Jahre hinweg nicht geleistet hat. Bevor die für Wissenschaft reichlich vorhandenen Gelder in sinnvolle Kanäle fließen, muss die Politik verstehen, was sie mit ihrer ideologischen Verliebtheit in die alten Modelle anstellt. Die Politik muss erkennen, dass sie es ist, die durch Unwissenheit Schuld trägt an den gegenwärtig beklagten Entwicklungen. Sie muss vor allem verstehen, dass es seit gut 80 Jahren eine wissenschaftlich durchdachte Alternative gibt, die nicht wie viele andere Empfehlungen als reine Kopfgeburt vom Schreibtisch kommt, sondern in der Praxis unter Erhard ihre Feuerprobe bereits einmal bestanden hat. In der größten Not funktionierte dieser Plan, was man von allen anderen Plänen nicht behaupten kann. Ob Staatswirtschaft, Sozialstaat oder kapitalistische Wildwuchs, alle diese Konzepte vergrößern die Not durch die in ihnen enthaltenen Schwachstellen. Unsere Kapitäne versuchen den Bug des Schiffes mit immer dickeren Stahlplatten zu panzern, weil sie die Klippen nicht umfahren können. Dabei wird das Schiff immer schwerer, kann kaum noch schwimmen, lässt sich kaum noch steuern und kann immer weniger Fracht transportieren. Das sind die Zustände, die sich einstellen, wenn der Schifffahrt falsche Pläne zugrunde liegen.
Die besten Wirtschaftsminister sind momentan diejenigen, die einfach gar nichts machen, denn alles, was nach falschem Plan erfolgt, verschlimmert die Lage. Welch armseliger Zustand verglichen mit der Zeit, als Erhard ein Volk der Unwissenden gegen große politische Widerstände zum Ziel führen konnte?
Es ist eine der Unmöglichkeiten vieler Demokratien, dass sich die Reichen wenig um den Wohlstand der Armen sorgen und die Armen von den politischen Prozessen mangels Bildung weitgehend ausgeschlossen sind. Aber in Demokratien wie der unseren, in der ein breiter intellektueller Mittelstand existiert um den sich alle Parteien bemühen, da wird die Schlacht um das politische Mandat in einer gesellschaftlichen Schicht geführt, die über ein hohes Maß an Vernunft verfügt. Diese politische "Mitte" ist nicht extrem. Sie verlangt nicht nach Schaukämpfen und Sprüchen, sondern nach Kompetenz und Lösungen. Sie verlangt nicht nach extremer Bereicherung, fürchtet aber die Verarmung wenn politische Systeme nicht funktionieren. Sie will nicht von Almosen leben, wohl aber ihre Leistungsfähigkeit entfalten und die Früchte der eigenen Arbeit ernten und genießen. Mit anderen Worten: wir haben heute die allerbesten Voraussetzungen für vernünftige Veränderungen von großer Tragweite, zum einen weil der Leidensdruck da ist, aber zum anderen deswegen, weil die Bevölkerung in ihrer Mehrheit alles das verstehen kann, worum es bei diesen Entscheidungen geht.
Eine Demokratie ohne mündiges Volk kann nicht funktionieren, denn wo alle (Regierungs-) Gewalt vom Volke ausgeht, das Volk sich also seine Regierenden wählt, da bekommt es auch stets die Regierung, die ihm gebührt. Wenn die Leute in der Masse nicht wissen, welche Wirtschaftsordnung sie wollen, wie sollen sie dann den Plänen der Parteien den Vorzug geben, die ihren Wohlstand mehren?