Vollbeschäftigung
"Wenn wir die Arbeitslosenquote nicht spürbar senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden." Gerhard Schröder im Dezember 1998
Welch große Worte, welch magere Taten.
Über Jahrtausende hinweg gab es den Begriff "Arbeitslosigkeit" nicht. Es gab Arm und Reich, Gesund und Krank, aber wer Essen wollte, musste arbeiten oder bedurfte der Fürsorge.
"Arbeitslosigkeit" ist eine Erfindung des Industriezeitalters, genauer gesagt der Teilung dieser Gesellschaft nach "Arbeit" und "Kapital" oder "Arbeitnehmern" und "Arbeitgebern". In solch einer Gesellschaft sind "Arbeitgeber" Personen, die jederzeit selber arbeiten können und darüber hinaus einen Geschäftsbetrieb unterhalten, in dem durch die Beschäftigung weiterer Personen der Ertrag gesteigert werden kann. "Arbeitnehmer" hingegen sind Personen, die nur dann zu Arbeiten in der Lage sind, wenn sie in dem Geschäftsbetrieb eines "Arbeitgebers" Aufnahme finden.
Ob sich die Beschäftigung von "Mitarbeitern" lohnt, entscheidet sich für einen Arbeitgeber durch den zusätzlichen Gewinn, der sich über diese Beschäftigung erzielen läßt. Seinen Gewinn kann ein Unternehmer erhöhen indem er expandiert und mehr Erzeugnisse mit mehr Mitarbeitern absetzt. Er kann seinen Gewinn aber auch erhöhen, indem er die Entlohnung seiner Mitarbeiter niedrig hält.
Bei den Lohnverhandlungen haben Arbeitgeber ein Interesse daran, dass kein Mangel an Arbeitskräften besteht. Herrscht Vollbeschäftigung, gehen die Arbeitnehmer zu den Unternehmen, die die besten Arbeitsbedingungen bieten. Die Unternehmen müssen den vollen Gegenwert der geleisteten Arbeit bezahlen bzw. finden keine Mitarbeiter wenn ihre Erzeugnisse geringere Erträge abwerfen als die der anderen Unternehmen. Weil sich bei Vollbeschäftigung keine Gewinne durch niedrige Löhne durchsetzen lassen, haben die Unternehmen ein hohes Interesse an einer "Mindestarbeitslosigkeit".
Die Gewerkschaften wissen wohl, dass Arbeitslosigkeit ihre Verhandlungsposition schwächt. Deswegen haben sie die Solidaritätskassen erfunden. Es erscheint ihnen vorteilhafter, wenn das Arbeitsangebot reduziert wird indem alle Beschäftigten einen Teil ihres Einkommens an die Unbeschäftigten abgeben, damit diese nicht um die vorhandenen Arbeitsplätze konkurrieren und mit ihrer Konkurrenz das Lohnniveau senken.
Mit dieser Abwehrstrategie, die inzwischen vom Staat in Form einer Arbeitslosenversicherung übernommen wurde, funktioniert das Konzept der "Mindestarbeitslosigkeit" der Unternehmer nicht. 1 Mio. Arbeitslose konnten die Sozialkassen locker wegstecken. Es mussten deutlich mehr werden, bevor die Gewerkschaften erstmals aufgrund der unerträglich gewordenen Verhältnisse eingeknickt sind. Inzwischen haben wir in dieser Beziehung einen "Gleichgewichtszustand" erreicht, der den Arbeitnehmern bereits über Jahre hinweg einen Reallohnverzicht beschert, aber natürlich auch Staat und Wirtschaft enorm schädigt, denn im Ergebnis führt dieser Klassenkampf zu einer Reduzierung der möglichen Produktivität eines Volkes um eben jenes Maß der Kräfte, die die Wirtschaftsordnung nicht zu integrieren vermag. Hinzu kommen weitere Verwerfungen mit der Zeit in der Gesellschaft selber, ihrem Bildung-, Sozial-, Gesundheits- und Rechtssystem, an denen niemand wirklich Freude haben dürfte.
Wir sind als Gesellschaft in einem Dilemma gefangen, das sich daraus ergibt, dass sich die Kontrahenten in einer kapitalistischen Klassengesellschaft auf einen Modus ihrer Auseinandersetzung festgelegt haben, der im Ergebnis "Massenarbeitslosigkeit" zur Folge hat.
Es ist diesen Kontrahenten gelungen, alle Selbstheilungskräfte des Marktes auszuschalten. Massenarbeitslosigkeit ist kein Resultat einer "freien" Marktwirtschaft, sondern einer zutiefst "unfreien" Marktwirtschaft.
Von „Vollbeschäftigung“ wird kaum ein Wissenschaftler noch sprechen, denn man sucht ja inzwischen die „optimale Arbeitslosigkeit“. Also nicht zu viel, weil sonst der Frieden innerhalb der Gesellschaft gefährdet ist und die Wirtschaft es nicht mag, wenn auf einmal Protestbewegungen an den politisch extremen Rändern überhand nehmen. Aber auch nicht zu wenig, wegen der frechen Arbeiter, die ja nichts anderes im Sinn haben, als den fleißigen Unternehmern und Kapitaleignern die Gewinne wegzunehmen. Da irgendwo gibt es eine optimal hohe Arbeitslosigkeit, man weiß nur nicht genau wo. Spielt aber auch keine große Rolle, denn wie man die Arbeitslosigkeit beeinflussen könnte, darüber geht man im ideologischen Grabenkampf ja mindestens so auseinander wie bei allem anderen auch.
Wir kommen auch bei der Lösung dieses Problems an den einfachen Weisheiten Franz Oppenheimers nicht vorbei:
Vollbeschäftigung findet dort statt, wo jeder, der Güter oder Dienste vom Markt nehmen will, in der Lage ist, Güter oder Dienste in gleichem Umfang auf den Markt zu bringen.
Wir müssen diesen einen Satz verstehen, mehr nicht. Es ist ein einfacher Satz mit weit reichender Bedeutung, denn alle Freiheitsbeschränkungen des Marktes zielen genau darauf, diesen, in einem Satz beschriebenen Zustand, zu verhindern. Es ist dem falsch verstandenen Eigeninteresse und der Kenntnislosigkeit der zuständigen "Eliten" geschuldet, dass eine Vielzahl möglicher Selbstheilungskräfte außer Kraft gesetzt sind und überhaupt gar keine Vorstellung davon existiert, wie dieser Markt beschaffen sein müsste, damit er sich ohne jedes Zutun selbsttätig auf ein Niveau maximaler Produktivität und Vollbeschäftigung katapultiert.
Wie gerne hätten wir sinkende Steuern und Sozialabgaben bei gleichzeitigem Abbau der Staatsverschuldung! Das geht aber nur durch eine drastisch erhöhte Produktivität. Die Aktivierung der momentan ausgegrenzten Arbeitspotentiale ist der einzig sinnvolle Schritt zur Lösung zahlreicher - scheinbar unlösbarer - Probleme. Wir müssen verstehen, dass weder Arbeitgeber, noch Gewerkschaften, in dieser Frage hilfreich sind. Deswegen müssen Dinge geschehen, die beiden mächtigen Interessenverbänden überhaupt nicht passen. Den Arbeitgebern nicht, weil es ihnen die Ausbeutung der Arbeitskräfte vermiest und den Gewerkschaften nicht, weil am Ende der Veränderung kein Mensch mehr Gewerkschaften brauchet. Mehr will ich dazu nicht sagen. Eine kluge Gesetzgebung und jemand in verantwortlicher Position, der die Geschicke zu lenken versteht, könnte mit einfachen Mitteln alles das wieder an Segnungen einer Sozialen Marktwirtschaft hervorzaubern, was wir einst hatten. Die Reanimation der Sozialen Marktwirtschaft ist kein Hexenwerk, sondern erfordert lediglich etwas Wissen und Hirn. Jeder kann jederzeit durch eigenes Nachdenken darauf kommen, was einer Problemlösung nutzt und was nicht, wenn die Basissätze seines Denkmodells stimmen.